MVP – ein beliebtes Tool mit einigen Missverständnissen
In unserer Arbeit mit Start-ups setzen wir auf den MVP-Ansatz. Viele GründerInnen sind mit dem Begriff bereits vertraut. Trotzdem stellen wir in Beratungsgesprächen immer wieder fest, dass es noch viele Missverständnisse darüber gibt, was ein MVP ist und welche Vorteile es hat.
Es empfiehlt sich, sich bereits im Vorfeld der MVP-Erstellung mit diesen Irrtümern auseinanderzusetzen. Wenn man weiß, welche Missverständnisse und Fehler man vermeiden sollte, steigen die Chancen auf einen Erfolg.
Das sind die häufigsten Irrtümer über MVPs
1. Eine gute Produktidee braucht kein MVP.
Oft glauben Unternehmen, die eigene Idee sei so gut, dass man sie gar nicht validieren müsse, sondern direkt mit der Umsetzung anfangen könne. Doch auch wenn eine Produktidee im eigenen Kopf noch so gut klingt, heißt das nicht, dass es auch einen Product-Market-Fit gibt. Dazu gibt es zu viele unbekannte Variablen, etwa die Konkurrenz oder die aktuelle Marktsituation. Wenn man schon lang an einer Idee gefeilt hat, entwickelt man leicht eine „Betriebsblindheit“ und übersieht solche Faktoren.
Hier verschafft man sich Gewissheit, indem man seine Produktidee mit einem MVP validiert. Wenn sich dann herausstellt, dass die Idee auf dem Markt tatsächlich gut ankommt, kann man mit der Erstellung des eigentlichen Produkts beginnen. Wenn nicht, hat man viel Zeit und Geld gespart und kann die Produktidee noch einmal überdenken, um sie besser an den Markt anzupassen. Genau dafür ist das MVP da.
2. Ein MVP schreckt die Zielgruppe ab.
Da ein MVP sehr minimalistisch und roh ist, haben manche UnternehmerInnen Angst, dass die Zielgruppe unzufrieden ist und das Vertrauen in die Produktidee verliert. Diese Befürchtung ist allerdings unbegründet. Kritik und Verbesserungsvorschläge am MVP sind kein schlechtes Zeichen, sondern wertvoll. Das Feedback hilft einem, sein Produkt zu verbessern. Außerdem zeigt die aktive Auseinandersetzung mit dem MVP seitens der Zielgruppe, dass sie ein wirkliches Interesse am Produkt hat.
Wenn man sich dennoch nicht sicher genug fühlt, mit seinem MVP in die große Öffentlichkeit zu gehen, gibt es die Möglichkeit, den Launch erst einmal nur im kleinen Kreis für einige Early Adopters zu realisieren.
3. Das MVP ist der Kern der Lean-Startup-Methode.
Das MVP spielt eine wichtige Rolle im Lean-Startup-Ansatz und dessen Bauen-Messen-Lernen-Zyklus. Daher kommt es oft zum Missverständnis, das MVP sei der Kern des Lean Startups oder die MVP-Erstellung sei sogar dasselbe wie die Lean-Startup-Methode. Beides ist aber nicht der Fall. Auch wenn die beiden Begriffe in engem Zusammenhang stehen: Das MVP ist – auch innerhalb der Lean-Startup-Methode – ein wertvolles Tool, um seine Produktidee zu validieren – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
4. Ein MVP ist dasselbe wie ein Prototyp, Proof of Concept, Beta-Version etc.
Gelegentlich wird MVP als Synonym für Prototyp, Proof of Concept, Beta-Version oder weitere Begriffe verwendet. Auch wenn es hier Überschneidungen gibt, sollte man die verschiedenen Konzepte aber voneinander unterscheiden.
Vereinfacht könnte man sagen: Der Proof of Concept beantwortet die Frage: „Kann man das machen?“ Hier geht es um die prinzipielle Durchführbarkeit einer Produktidee, etwa im Rahmen einer Machbarkeitsstudie.
Der Prototyp beantwortet die Frage: „Wie kann man das machen?“. Hier gibt es gewisse Ähnlichkeiten zum MVP, daher kommt es oft zu Verwechslungen. Die beiden Konzepte unterscheiden sich unter anderem in der Zielgruppe, da der Prototyp in der Regel nicht für die zukünftigen EndbenutzerInnen gedacht ist, sondern eher für das interne Team oder auch für InvestorInnen.
Das MVP schließlich beantwortet vor allem die Frage: „Lohnt es sich überhaupt, das zu machen?“. Hier geht es hauptsächlich weder um technische Machbarkeit noch um InvestorInnen, sondern um die tatsächlichen (zukünftigen) User und den Product-Market-Fit.
Manchmal wird das MVP auch mit der Beta-Version von Software verwechselt. Auch hier gibt es zwar Ähnlichkeiten, aber dennoch geht es um unterschiedliche Dinge. Beta-Versionen kommen spezifisch bei der Softwareentwicklung zum Einsatz, auch bei neuen Versionen eines bereits etablierten Produkts. Der Fokus liegt hier eher auf dem Testen der Funktionalität und dem Auffinden von Bugs, die im Rahmen der Alpha-Version unentdeckt geblieben sind.
5. Das MVP muss groß (und perfekt) sein.
Auch wenn sich die minimalistische Grundidee des MVPs immer mehr durchsetzt, gehen viele EntrepreneurInnen immer noch mit einer zu hohen und perfektionistischen Erwartungshaltung an die Erstellung ihres MVPs. Schnell verliert man sich in Kleinigkeiten und Spielereien. Man denkt, das MVP müsse alles enthalten, was die User sich wünschen könnten, oder man müsse alles einbauen, was man sich leisten kann.
Das Problem dahinter muss nicht immer Perfektionismus sein. Manchmal tun sich GründerInnen schwer damit, die richtigen Prioritäten zu setzen. Alle Features scheinen wichtig und „Must-haves“ zu sein, obwohl viele es gar nicht sind. So kann es passieren, dass man der „Next Feature Fallacy“ erliegt: dem Glauben, dass das nächste Feature den großen Durchbruch bringt. Das kann aber zu einem Kreislauf führen, in dem man unnötigerweise immer mehr Funktionen in sein MVP einbaut und dabei die wirklichen pain points der User vernachlässigt.
Grundsätzlich empfiehlt es sich immer, klein anzufangen – auch wenn einem das erst einmal schwerfällt. Man sollte sich bei jedem Feature fragen: „Gehört das wirklich zum Kern der Produktidee?“ Bei vielen Funktionen kann man das ehrlicherweise verneinen und die entsprechenden Features fürs Erste weglassen. Wenn man mit dem Einschätzen der Prioritäten überfordert ist, kann es hilfreich sein, die Prioritäten mithilfe der MOSCOW-Methode oder mit Scoreboards herauszuarbeiten. So kann man sich im Rahmen seiner verfügbaren zeitlichen und finanziellen Ressourcen auf den Kern des MVPs beschränken.
Man sollte sich auch bewusst machen: Je mehr Features man einbaut, desto teurer wird die MVP-Erstellung und desto mehr Zeit vergeht bis zum Launch. Gleichzeitig steigt das Risiko, da man mehr Zeit und Geld verliert, wenn das MVP nicht den gewünschten Erfolg hat. Bevor man launcht, weiß man noch gar nicht genau, welche Funktionen die Zielgruppe wirklich am meisten lieben und benötigen wird, und ob es wirklich einen ausreichenden Product-Market-Fit gibt. Um genau das herauszufinden, erstellt man sein MVP.
6. Jedes MVP hat genau ein nützliches Feature.
Umgekehrt sollte man den Minimalismus aber auch nicht zu wörtlich nehmen. Manche GründerInnen ziehen den Fehlschluss, dass ein MVP immer nur eine einzige nützliche Funktion hat. Bei vielen MVPs ist das tatsächlich der Fall. Je nach Produktart oder Branche können es aber auch mehr sein. Bei komplexeren Anwendungen kann die Grundfunktionalität beispielsweise aus drei Features bestehen. Es geht hier also weniger um die Quantität (genau ein Feature) als um die Qualität (Beschränkung auf das absolut Wesentliche).
7. Wenn man ein Software-Start-Up hat, muss das MVP auch Software sein.
Der Gedanke ist sehr naheliegend, da man mit einem Software-MVP der eigentlichen Produktidee am nächsten kommt. Oft gibt es aber Alternativen, die Zeit und Kosten sparen. Auch wenn man ein Software-Start-Up ist und die Produktidee eine App ist, kann man ein MVP ohne Code erstellen. Einige Beispiele für ein MVP sind eine Beratungssitzung über Zoom, eine Dienstleistung, ein Online-Kurs zum Durcharbeiten, ein E-Book, ein Video, ein Clickdummy oder eine Landingpage. Wichtig ist nur, dass das MVP den Mehrwert für die Zielgruppe testbar macht. Solang es dabei hilft, die Produktidee zu validieren, sind das sinnvolle MVPs – obwohl es keine Software ist.
8. Die MVP-Methode ist nur für Produkte im B2C-Sektor geeignet.
Bei den bekanntesten Beispielen für Unternehmen, die mit einem MVP angefangen haben, handelt es sich um Unternehmen, die ihr Produkt hauptsächlich für private EndnutzerInnen anbieten: Facebook, AirBnB, Uber und andere. Daher könnte man annehmen, dass die Erstellung eines MVPs nur für Unternehmen im B2C-Bereich erfolgversprechend ist. Das muss jedoch nicht so sein. Die MVP-Methode ist für verschiedenste Produktarten und Branchen sinnvoll – auch für B2B-Anwendungen und interne Tools wie eine individuelle Prozesssoftware. Denn auch in diesem Bereich sollte man seine Produktidee für seine Zielgruppe validieren, bevor man sich an die Erstellung des Endprodukts begibt. Zu den bekanntesten Beispielen für erfolgreiche B2B-Plattformen, die mit einem MVP angefangen haben, zählen etwa Buffer, Basecamp und HubSpot.
9. Mit dem MVP allein kann man Investitionen einholen.
Natürlich kann man mit einem guten MVP interessierte InvestorInnen gewinnen. Das ist aber nicht der Hauptzweck der MVP-Erstellung und man sollte daher auch nicht damit rechnen, dass es passieren wird. Um InvestorInnen zu überzeugen, braucht man in der Regel mehr als ein gutes MVP. Dazu gehören auch die richtigen Metrics, eine kaufbereite Zielgruppe, der richtige Product-Market-Fit und mehr. All das kann man aber mit dem MVP testen, bevor man auf Investorensuche geht. Wenn das MVP gezeigt hat, dass es einen vielversprechenden Markt gibt, kann man anschließend deutlich überzeugender und mit einer besseren Basis in Gespräche mit InvestorInnen gehen.
10. Mit der MVP-Methode kann man günstig ein (End-)Produkt auf den Markt bringen.
Wenn man der MVP-Methode konsequent folgt, kann man in kurzer Zeit mit seinem MVP an die Öffentlichkeit gehen, um das erste Feedback einzuholen. Das könnte EntrepreneurInnen zur Idee verleiten, den Prozess der MVP-Erstellung zu benutzen, um für wenig Geld in kurzer Zeit ein fertiges Produkt auf den Markt zu bringen.
Das ist jedoch nicht der Sinn der MVP-Methode. Ein MVP ist keine „Light-Version“ eines Produkts, mit der man Geld verdienen kann, und noch nicht einmal ein Prototyp. Bei der Erstellung des MVPs geht es nicht darum, so schnell wie möglich an den Markt zu gehen und Gewinne zu machen, sondern darum, erst einmal seine Produktidee zu validieren.
Trotzdem ist der Weg zum Endprodukt mit der MVP-Methode deutlich günstiger, geradliniger und führt zu besseren Ergebnissen. Dadurch, dass alle Annahmen und Ideen erst validiert werden, vermeidet man kostspielige Fehlentwicklungen.
11. „If you build it, they will come.“
Es ist eine angenehme Vorstellung, nach der Erstellung des MVPs sei der größte und wichtigste Teil der Arbeit erledigt. Aber ein erfolgreiches MVP legt zunächst nur den Grundstein. Man sollte nicht davon ausgehen, dass das MVP jetzt von allein Kundschaft oder sogar Geld einbringt und das Unternehmen voranbringt. Das kann zwar passieren, es ist aber nicht selbstverständlich.
Nach dem Launch des MVPs hat man immer noch Arbeit vor sich. Man kann sagen, dass man das MVP nach dem erfolgreichen Test zum eigentlichen Produkt weiterentwickelt – und zwar in iterativen Schritten. Ein MVP entwickelt sich ständig weiter. „Fertig“ im Sinne von „es muss nichts mehr gemacht werden“ ist es eigentlich nie. Immer wieder muss man es anhand neuer Erkenntnisse und des Feedbacks der BenutzerInnen anpassen. Das ist zwar viel Arbeit, aber dafür wird das Produkt immer besser und immer genauer auf die Zielgruppe zugeschnitten. Somit legt man die Basis für den Erfolg der Produktidee in der Zukunft.
12. Die dauerhafte Weiterentwicklung des MVPs kostet zu viel Zeit und Geld.
Da ein MVP ständig anhand des Feedbacks und der eigenen Learnings weiterentwickelt wird, entsteht bei manchen GründerInnen das Missverständnis, dass die MVP-Erstellung sehr teuer und zeitaufwendig sein muss. Man denkt, durch die kontinuierliche Arbeit am MVP steigen auch die Kosten immer weiter.
Diese Befürchtung entspricht aber nicht der Wahrheit. Es ist sogar eher das Gegenteil der Fall: Mit der MVP-Erstellung wird der gesamte Entwicklungsprozess effizienter und risikoärmer. Das liegt daran, dass man durch das Vorgehen in kleinen Schritten und das regelmäßige wertvolle Feedback genau diejenigen Features weiterentwickelt, die von der Zielgruppe wirklich gewollt sind und das Produkt somit nach vorn bringen.
Wenn man hingegen mit der Produkterstellung beginnt, ohne seine Produktidee vorher validiert zu haben, kann man wirklich Zeit und Geld verlieren. Denn dann steckt man Ressourcen in Features, die die Zielgruppe am Ende gar nicht braucht, oder verschwendet Zeit mit einer Idee, für die es keinen lukrativen Markt gibt.
13. Man kennt seine Zielgruppe bereits gut genug.
Bevor man mit der MVP-Erstellung beginnt, sollte man die Besonderheiten, Bedürfnisse und pain points seiner KundInnen genau erforschen. Oft unterschätzen UnternehmerInnen allerdings, wie wichtig und aufwendig diese Recherche tatsächlich ist. Daher empfiehlt es sich, lieber etwas mehr zu recherchieren, als man es anfangs für nötig hält. Ein MVP ist ein wichtiges Tool in diesem Prozess.
Es ist eine gute Idee, nicht nur mit potenziellen Usern aus dem eigenen Netzwerk oder Freundeskreis zu sprechen, sondern auch mit Fremden. Wenn man ihnen genau zuhört und die richtigen Fragen stellt, wird man noch mehr wertvolle Erkenntnisse für eine erfolgreiche Produktidee gewinnen. Man sollte dabei auch bereit sein, bisherige Erkenntnisse über seine Zielgruppe wieder zu verwerfen, wenn sie sich als falsch entpuppen.
14. Wenn das MVP scheitert, scheitert auch die Produktidee oder sogar das ganze Business.
Einige GründerInnen gehen mit dieser extremen Erwartungshaltung an ihr Vorhaben. Damit setzt man sich aber nur selbst unnötig unter immensen Druck und verweigert sich selbst die Möglichkeit auf einen wertvollen Lernprozess. Die MVP-Erstellung ist Teil eines Prozesses. Wenn das MVP kein Erfolg ist, bedeutet das nicht, dass man die ganze Produktidee verwerfen muss. Scheitern gehört für jedes Business dazu und bringt einen weiter – wenn man die Lerngelegenheit nutzt und sich daran begibt, herauszufinden, warum das MVP gescheitert ist. Hierfür befragt man am besten seine Zielgruppe und versucht es dann einfach noch einmal – dieses Mal mit Feedback und einem neuen Blickwinkel auf die Produktidee. Das MVP ist zum Lernen da und man kann immer einen Schritt zurückgehen.
Oft ist diese Erwartungshaltung auch mit der Angst verbunden, dass man nach einem gescheiterten MVP von seinen KundInnen und seinem Umfeld verurteilt wird. Die meisten BenutzerInnen denken allerdings viel weniger über das gescheiterte MVP nach als man selbst. Hier hilft es, sich vor der MVP-Erstellung einmal das wirklich realistische Worst-Case-Szenario vorzustellen. Wenn man ehrlich ist, sieht es so aus: Das MVP scheitert, und kaum jemand bekommt etwas davon mit. Und selbst wenn es jemand mitbekommt, werden die meisten User bereit sein, einem eine zweite Chance zu geben, wenn man sich erkennbar das Feedback zu Herzen genommen hat und die richtigen Learnings aus der ersten MVP-Erstellung mitgenommen hat. Nicht vergessen: die meisten erfolgreichen Unternehmen und Personen haben mehrere Rückschläge durchlebt, bevor sie ihren großen Durchbruch hatten.
Fazit
Wenn man sich diese weitverbreiteten Missverständnisse über MVPs genau ansieht, stellt man fest: Die MVP-Methode ist für mehr Produktideen geeignet, als man vorher angenommen hat. Außerdem ist die MVP-Erstellung weniger kompliziert und risikoreich, als man vielleicht befürchtet. Wer eine gute Produktidee hat, sollte sich also nicht von einem dieser 14 Mythen davon abhalten lassen, seine Idee mit einem MVP zu validieren.